Die Jahreslosung für 2023 ist "Du bist ein Gott, der mich sieht" (Genesis, Kap. 16, Vers 13).
Wo sieht uns Gott ganz konkret im Alltag und wie können wir andere Menschen mit ihren Themen sehen.
Unser Gast Susanne Sambale gibt uns einen ganz persönlichen Einblick in ihr "Sehen und gesehen werden".
DG: David Geitner
DN: David Naßler
Gäste:
Susanne Sambale
DN: Wir sitzen hier mitten im Wald und hören die Vögel und sehen die Bäume.
DG: Sehr, sehr schön.
DN: Und die Jahreslosung hat auch was mit sehen zu tun. Du bist ein Gott, der mich sieht. Das ist heute das Thema. Wir wollen über die Jahreslosung 2023 sprechen. Ich habe mit Nina vorher darüber geredet, dass wir heute über die Jahreslosung sprechen. Und dann hat sie mich eine ganz interessante Frage gestellt: Was ist eigentlich die Jahreslosung und was macht man damit?
DG: Eine spannende Frage.
DN: Ich habe dann versucht, ihr zu erklären, was es sein könnte. Ich wollte es jetzt nicht mit einem Horoskop vergleichen, aber ich habe dann ein Wort gesucht, und mir ist dann Leitsatz eingefallen.
DG: Das ist doch schonmal nicht schlecht.
DN: Aber kannst du mal ein bisschen den Hintergrund von der Jahreslosung erklären, die Herkunft und auch den Sinn dahinter?
DG: Also es gibt die Herrnhuter Brüdergemeine. Die sind in Sachsen. Nikolaus Graf von Zinzendorf hat diese als eine Art, ja Leitwort, in der Singstunde vorgelesen. Die Brüdergemeine ziehen tatsächlich heute noch. Es gibt neben der Jahreslosung noch eine Tageslosung. Im Endeffekt ziehen die wirklichen Tage für Tag einen einzelnen Vers, nicht am Tag selbst, sondern vorab. Aber immerhin. Die Jahreslosung und das Losen haben eine ganz, ganz lange Tradition. Die Jahreslosung, die einem über das Jahr hinweg begleiten soll. Von daher ist das mit dem Horoskop zwar jetzt theologisch schwierig, aber dass man irgendwo das als Leitspruch, als Bedeutung, als das, was jemanden begleitet ein Jahr lang, sieht. Das ist sehr, sehr ähnlich. Die Losungen gibt es seit 1726. Und dieses Jahr lautet Sie: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“
DN: Wir wollen nach dem Interview nochmal ein bisschen über die Geschichte in Genesis, Kapitel 16, Vers 14 sprechen, aber jetzt schalten wir mal rüber, und zwar hast du jemand interviewt. Wen denn?
DG: Genau. Die Susa, und die stellen wir gleich einmal vor.
DN: Alles klar.
DG: Schön, dass du da bist. Hi, Susa.
Susanne: Hallo.
DG: Ja, wir kennen uns jetzt schon, ich hatte überlegt, seit knapp /. Weißt du es noch?
Susanne: Acht Jahre müssten es jetzt werden, 2015.
DG: 2015, ein großes Jahr für uns beide, jetzt gar nicht mal im Privaten, sondern tatsächlich, weil wir dort zusammen in der Flüchtlingsberatung angefangen haben. Du warst schon ein alter Hase. Ich bin neu dazugekommen und freue mich jetzt, dass du heute unser Podcast-Gast bist. Du bist selbst jetzt gerade Mama geworden. Du berichtest da auch später mal ein bisschen davon, wie das ist als Mama. Und, noch viel mehr, du arbeitest in einer Erstaufnahme für Geflüchtete. Kannst du kurz das erklären, weil nicht alle wissen, was das ist.
Susanne: Das ist eine Landeserstaufnahmestelle in Baden-Württemberg. Das bedeutet, da kommen Leute ganz frisch an. Also da klopfen sie an die Tür und sagen: „Ich möchte bitte Asyl." Und meine Aufgabe ist es, zusammen mit einem ganzen Team Asylverfahrensberatungen, auch Sozialberatungen, anzubieten. Das heißt, sie in ihrem Verfahren am Anfang zu begleiten, viel zu erklären, um was es geht und wie es geht und, was für Konsequenzen eine Entscheidung haben kann. Halt einfach alles erklären und dann eben die Sozialberatungen. Da kann eigentlich alles erst mal gefragt werden und mit jedem Anliegen kann zu uns gekommen werden. Also alles von Geburt bis hin zum Sterben, alles, was dazwischen passieren kann, dafür sind wir erst mal Ansprechpartner.
DG: Und, genau, du bist selbst ausgewandert nach Baden-Württemberg. Du warst vorher in Franken, genauer in Nürnberg. Du bist, glaube ich, auch da geboren, gell?
Susanne: Ganz genau. Gebürtige Nürnbergerin.
DG: Gebürtige Nürnbergerin. Und du bist jetzt aber in Pfullendorf.
Susanne: In Tautenbronn, in einem wunderschönen 13-Häuser-Dorf.
DG: 13-Häuser-Dorf, sehr idyllisch dort. Mit einem großen Garten. Das Thema ist die Jahreslosung, du bist ein Gott, der mich sieht. Und die Frage an dich als Erstes in deiner Arbeit, was heißt es für dich, den Menschen zu sehen?
Susanne: Für mich bedeutet es erst mal nicht nur den Menschen zu sehen, der mit irgendeinem Anliegen zu mir kommt, mit irgendeinem Problem oder mit einem Auftrag für mich oder so, sondern erst mal den Menschen an sich sehen. Und ganz konkret bedeutet das für mich, die Person auch erst mal wahrnehmen, anlächeln, sagen: „Schön, dass du da bist", oder: „Schön, dass Sie da sind." Einfach erst mal freundlich sein und irgendwie da sein, also im Hier und Jetzt irgendwie ankommen. Für mich bedeutet das, eben nicht zu sehen, wo kommt eine Person her, was für eine Hautfarbe hat sie oder so, auch nicht die aktuelle Lebenssituation zu sehen, weil im Kontext Flucht, das ist immer außergewöhnlich und wirklich auch einfach Stress für viele Leute. Und da agieren dann viele Leute anders, als sie eigentlich relaxt agieren, und deswegen versuche ich, das, ja, auch ein bisschen auszublenden.
DG: Also das heißt ja tatsächlich, ihr seid auch die ersten, die sich dann tatsächlich Zeit nehmen. Die Menschen haben oft eine lange Flucht hinter sich und kommen dann in Deutschland in dieser Erstaufnahme erst mal an. Ihr seid dann die ersten, die wirklich mal Zeit haben und den Geflüchteten – sprichwörtlich – in die Augen sehen.
Susanne: Meistens, ja, ganz genau. Also auch erst mal was erklären, um was es eigentlich geht. Jeder hat im Kopf wie ein Asylantrag funktioniert. Aber da gibt es auch vieles, was nicht stimmt. Also ich hatte vorher auch nicht so konkret einen Plan, bevor ich das gemacht habe. Und das ist schon eine komplizierte Angelegenheit am Ende. Und dann muss man sich auch Zeit nehmen oder hat, ja, viele Fragen als Betroffener. Und dann sind wir diejenigen, die da tatsächlich da sind. Oft sind wir dann die erste richtige Anlaufstelle in Deutschland wo sie, ja, Kontakt mit unserer Kultur haben, mit deutschen Menschen. Das ist spannend.
DG: Das sind jetzt ja Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Du arbeitest bei der Diakonie. Tut das irgendwas zur Sache, dass du sagst: „Hey, das merkt man", oder ist das eigentlich wurscht?
Susanne: Zum einen ist es halt einfach erst mal meine Motivation, warum ich arbeite, ist einfach die Arbeit oder der Dienst, das Dienen am nächsten. Das ist für mich. Aber für die Leute, die zu uns kommen, macht es erst mal keinen Unterschied, ob jetzt die einen Mitarbeiter*innen von der Caritas kommen, die anderen von der Diakonie oder die nächsten vom Roten Kreuz. Wir arbeiten eben in diesem Dreierbund. Es macht eigentlich keinen Unterschied, zu welchem Berater oder Beraterinnen, die jetzt gehen, weil wir einfach überkonfessionell und unabhängig arbeiten. Und ich glaube, das ist das Wichtige, dass wir unabhängig arbeiten, also nicht gebunden an den Staat, sondern einfach eigenständig sind.
DG: Das ist schon ein ganz großer Schatz.
Susanne: Genau. Für viele ist das wichtig und auch, dass wir Schweigepflicht haben, dass, wenn man uns was erzählt, dass auch bei uns in den vier Wänden bleibt und eben nicht rausgetragen wird.
DG: Geflüchtete sind ja so eine Gruppe, die jetzt vielleicht ein bisschen weniger gesehen werden so im gesellschaftlichen Alltag. Würdest du sagen, es gibt noch andere Gruppen, die auch nicht so präsent sind, also die nicht so gesehen werden?
Susanne: Hm. Also, genau, jetzt erst mal, ja, gesehen /. Ich bin Sozialpädagogin und die soziale Arbeit kümmert sich ja im Prinzip nur mit Menschen, die in irgendeiner Art durch das Raster fallen. Aber wenn wir uns dann den Leuten annehmen oder halt einfach die komplette Bandbreite der sozialen Arbeit, dann gibt es Anlaufstellen, bin aber auch überzeugt, dass es Leute gibt, die auch da durchfallen, also die durch jedes Netz und Raster fallen, und ich muss sagen, ich glaube, da fallen mir zunächst einfach mal einsame Menschen ein.
DG: Spannend
Susanne: Also einsam, erst mal egal warum. Also das können Jugendliche sein, die einfach in der Schule nicht richtig angebunden sind. Es können, mittelalte Leute sein oder junge Erwachsene um die dreißig – vierzig Jahre. Ich glaube, das ist völlig unabhängig vom Alter, warum man einsam ist. Mag es eine Krankheit sein, die einen hindert, an dem gesellschaftlichen Leben teilzunehmen oder auch bei verschiedenen Veranstaltungen oder Begegnungen dabei zu sein. Genau, und das trifft eben dann auch alte Leute. Da kennt man es, glaube ich, eher, dass man weiß: „Wenn man alt ist, dann wird man einsam." Aber es betrifft eben auch Jüngere und ich glaube, da gibt es ganz viele, die durch das Raster fallen, was dann zum Beispiel die Pandemie auch nochmal verstärkt hat, weil, genau, dann einfach alle sich ein bisschen zurückgezogen haben.
DG: Absolut, ja.
Susanne: Ja, und es ist, glaube ich, auch ganz schwer, die zu erreichen, dass diese Personen gesehen werden. Das ist sehr, sehr schwierig. Ich habe da jetzt auch gerade keine spontane Lösung. Man müsste an der Tür klopfen. In der Stadt ist es zum Beispiel noch viel schwieriger, wo es anonymer zugeht. In so einem 13-Häuser-Dorf wie bei uns, da merkt man dann: „Okay, den einen habe ich jetzt schon ewig nicht mehr gesehen", aber auch hier ist es nicht immer einfach. Ob eine Gesellschaft zu 100 Prozent das Problem lösen kann und alle Menschen sieht, weiß ich nicht genau.
DG: Das stimmt.
Susanne: Und die andere Gruppe, die mir noch eingefallen ist, sind Alleinerziehende. Es betrifft hauptsächlich, schätze ich mal, Frauen, Aber es gibt auch alleinerziehende Männer, und das ist eine Gruppe, die einfach, glaube ich, sehr stark eingebunden ist im Alltag. Also die haben einen sehr durchgetakteten Alltag und haben eigentlich keine Freizeit, wo sie sagen: „Ich nehme jetzt mal am kulturellen Leben teil", weil das, ich glaube, für viele dann völlig utopisch erscheint. Also ich erlebe es gerade selbst und bin heilfroh, dass ich nicht allein bin, sondern dass wir zu zweit unsere Tochter betreuen dürfen. Aber wenn ich mir vorstelle, ich mache das allein und habe dann auch natürlich, was damit zusammenhängt, auch noch minimierte finanzielle Ressourcen, ist es schwierig. Und die fallen oft durchs Raster, denn diese Gruppe hat schlichtweg keine Zeit, sich dem sozialen Leben zuzuwenden, die sagen eher „Nee, in der Zeit muss ich Haushalt machen, in der Zeit muss ich mein Kind irgendwo hinbringen."
DG: Der Zweitjob.
Susanne: Genau. Den Zweitjob. Ich gehe arbeiten. Also das ist echt eine Gruppe, die eingebunden ist, dadurch eben auch einsam wird und durch das Raster fällt. Also ich glaube, diese Einsamkeit ist ein großes Ding, wo man eben übersehen wird. Genau, ja.
DG: Ja, vielen Dank. Ich glaube, das sind genau zwei Gruppen, die auch tatsächlich in der sozialen Arbeit, wie du sagst, nicht so gezielt vorkommen. Immer anteilig, aber nie oder selten, irgendwo explizit in Angeboten auftauchen.
Susanne: Ganz genau, ja.
DG: Ja, vielen Dank. So zum Schluss vielleicht so eine persönliche Frage noch. Ja, eher zwei sind es. Die eine, wo hast du erleben dürfen, dass Gott dich gesehen hat? Und das zweite so vielleicht ein bisschen. Gibt es für dich Menschen, wo du übersiehst, je nachdem, wie du starten willst, mit welcher Frage…
Susanne: Also wo ich quasi erfahren habe, dass Gott mich sieht oder ich das erfahre, das sind natürlich, also wenn ich zurückblicke, ganz viele positive Erlebnisse, wo ich weiß, wo ich zum Beispiel sage, es ist nicht nur Zufall oder es ist irgendwie Universum hat das so gemacht, sondern ich sage ganz klar, da hat Gott mich gesehen und hat irgendwie eingegriffen. Da kann man da immer vieles benennen, zum Beispiel dass ich mit meinem Mann zusammen bin, dass wir geheiratet haben. Das hätten wir, glaube ich, ohne Gottes Zutun tatsächlich nie auf die Kette gekriegt, weil wir so uns ein bisschen angestellt haben. Wo ich aber wirklich weiß oder gespürt habe, dass Gott mich sieht, waren auch viele, viele negative Erfahrungen, die ich gemacht habe. Und da ganz konkret, wenn ich auf die letzten zwei Jahre blicke, waren das meine zwei Fehlgeburten, die ich hatte, bevor meine Tochter geboren wurde. Da hatte ich auch tatsächlich wieder diese Einsamkeit. Also die führt sich so bisschen wie ein roter Faden durch, gerade wo ich jetzt so mir die Gedanken auch im Vorfeld gemacht habe. Ich wusste aber, dass gerade bei dieser großen Trauer und Verzweiflung Gott mich sieht. Also er war dafür nicht verantwortlich. Ich habe nicht gehadert, was ich eigentlich dachte, dass ich tue. Wenn einem einfach so viel, ja, wenn so viel Negatives passiert, dann könnte man eher hadern mit Gott und fragen: „Warum ich und wieso?" Natürlich hatte ich die Gedanken, aber letztendlich wusste ich: „Nee, ne, ich falle gerade nicht tiefer als in seine Hände, und ich weiß, dass er mich sieht. Dass er mich sieht, wie ich weine und er mich aber auch trösten möchte, meine Tränen auffängt und sie zum Regenbogen macht." Jedes Mal, wenn ich jetzt einen sehe, denke ich: „Daran habe ich mitgearbeitet."
DG: Ein rührender, bewegender Gedanke
Susanne: Und das sage ich jetzt auch nicht nur, weil ich jetzt eine Tochter habe und jetzt irgendwie alles gut ist, sondern das war wirklich eine dunkle Zeit, und ich war echt richtig traurig, hatte aber wirklich ganz tief das Empfinden, dass Gott da ist, und zwar auch in Form von anderen Menschen, die er mir zur Seite gestellt hat. Das waren Freunde, ne, wie zum Beispiel, jetzt kann ich dich benennen und die Sheryl, deine Frau, die einfach da waren, mitgetrauert haben, ganz banal mitgeweint haben. Da habe ich gemerkt, also Gott sieht mich und unterstützt mich dann auch, schickt mir irgendwie die Hilfe, die ich jetzt dann auch gerade brauche, weil man sich als Frau, und ich denke auch als Papa, ganz klar in dem Fall einsam fühlt. Man spricht nicht drüber, weil es Tabuthema ist. Man sieht auf Sozial-Media nur alles rosarot und schön, und eigentlich sieht man fast nur die Erfolgssachen bei Schwangerschaften, aber nie eben diese dunklen Dinge, die aber fast jede zweite Frau betreffen. Und deswegen kann ich eigentlich nur die Message raushauen, wenn es dich betrifft, Gott sieht dich, Gott sieht, wenn so was passiert. Und er trauert mit. Er ist mit traurig, und das habe ich auf jeden Fall erfahren dürfen. Und dann eben auch, eben in der dritten Schwangerschaft, die dann positiv ausging, da hatte ich Angst. Und ich wusste aber permanent, dass Gott dabei ist und dass er mich sieht und dass er jetzt quasi uns als Familie auch sieht und meine Tochter auch sieht. Genau, da bin ich sehr, sehr dankbar. Genau.
DG: Die jetzt hoffentlich schläft? Wach ist?
Susanne: Nee, schlafen noch nicht ganz, aber /
DG: Beim Papa ist.
Susanne: Sie ist beim Papa, genau.
DG: Jawohl.
Susanne: Ich bin sehr dankbar dafür. Und trotzdem gibt es bei aller Dankbarkeit auch bei mir Leute, die ich übersehe. Das passiert auf jeden Fall, und gerade, wenn man irgendwie Mama geworden ist oder auch Papa geworden ist und ein kleines Kind versorgt, dann ist man ein wenig überwältigt und verliert den Blick eigentlich auf die Personen, glaube ich, die einem nahestehen. Also gerade die, die am nächsten an einem dran sind. Das ist mein Mann, aber Familie und auch Freunde, die man dann übersieht, weil man so involviert, ist in der Aufgabe. Und das muss man sich bewusst machen, um damit auch irgendwie aktiv gegensteuern zu können, genau, weil es einfach ja trotzdem nicht Arbeit im negativen Sinne ist, sondern Freundschaften bedürfen Pflege und die soll man auch, ja, halten und man muss daran auch arbeiten, genauso wie an anderen Beziehungen. Und deswegen, glaube ich, sind es oft die Personen, die einem am nächsten stehen, die man öfter mal übersieht, weil man das als selbstverständlich.
DG: Na klar, weil eine dritte Person halt ins Leben kommt, oder eine vierte, je nachdem, und die Zeit bleibt aber die gleiche.
Susanne: Genau. Korrekt.
DG: Du kriegst nicht mehr Zeit, aber du musst in der gleichen Zeit mehr unterbringen.
Susanne: Ja, leider. Also ich beantrage das immer wieder: 25 Stunden Tage.
DG: Genau. Man müsste ja sagen pro Person kriegst du einen um zwei Stunden längeren Tag. Dann würde das nämlich wieder aufgehen.
Susanne: Also das Modell würde ich auch gerne annehmen, wenn es möglich wäre.
DG: Leider noch nicht Parlament beschlossen, aber eine gute Idee.
Susanne: Man muss sich aber bewusst machen, dass das so ist. Denn es ist unfair gegenüber Freunden, wenn man dann sagt: „So, ich habe jetzt ein Kind, ich kann nicht mehr." Ich finde man muss Lösungen suchen, dass es trotzdem geht, und zwar so, dass es für alle passt. Also ich kann jetzt nicht mein Kind vernachlässigen, aber auf der gleichen Seite will ich auch nicht meine Freunde vernachlässigen, sondern alle müssen einen Weg finden, um das irgendwie gut werden zu lassen. Und ich glaube, der erste Schritt ist schon, dass man das erkennt, dass da mehr gemacht werden muss oder dass man daran arbeitet. Der erste Schritt ist immer die Erkenntnis und ich glaube, dann läuft das schon ganz gut. Aber das gibt es bei mir auf jeden Fall auch, dass ich Leute übersehe. Genau.
DG: Deswegen freuen wir uns, dass du oder ihr uns nächste Woche besuchen kommt.
Susanne: Damit wir uns mal wieder sehen.
DG: Damit diese Beziehung zumindest erst mal nicht gefährdet ist. Susa, ich danke dir von ganzem Herzen für deine ehrlichen, auch sehr berührenden Worte, und, ja, freue mich, dass du uns einen Einblick hast geben lassen in die Jahreslosung, was das für dich bedeutet und für deinen Alltag. Und ja, vielen Dank dir.
Susanne: Vielen Dank, dass ich hier sein durfte, dass ich Gast sein durfte.
DG: Ja, jetzt hat die Susa uns ja gerade sehr persönlich so ein bisschen auch erzählt, was für sie die Jahreslosung bedeutet. David, wie ist es für dich? Was bedeutet es für dich, eine Person zu sehen im Privaten?
DN: Also ich bin, ich würde mal sagen, ein sensibler Mensch, also ich habe ein gutes Gespür für Menschen, wie so ihre Stimmung ist, wie sie sich fühlen, und das ist eine Gabe. Es manchmal auch ein Fluch, ja, wenn man zu viel nach außen spürt und vielleicht auch mal zu viel reininterpretiert.
DN: Aber ich glaube, das ist was für mich, wo ich Menschen sehe, dass ich die Lage gut erkennen kann und entsprechend dann handeln, also dass ich, dann vielleicht auch nachfrage: „Alles okay bei dir?" Oder ich merke das auch zum Beispiel ganz krass bei meiner Mutter. Die hat auch ein sehr sensibles Gespür. Und manchmal komme ich so ins Büro rein, erzähle irgendwas, drücke mich ein wenig rum, aber will vielleicht nicht von mir aus was sagen. Und dann sagt sie: „Was ist eigentlich los mit dir?" Und das spürt sie dann. Ich glaube, dass ich das auch habe. Und das, finde ich, ist für mich was, wo ich ganz, ganz tiefe Beziehungen zu Freunden habe, weil ich einfach auf einer anderen Ebene einsteigen kann. Und das ist, glaube ich, für mich ein Beispiel, wo ich Menschen spüre. Also ich sehe nicht nur das, wie sie sind, sondern ich kann auch dahinter spüren, wie es ihnen geht und dann aktiv nachfragen.
DG: Das stimmt, du siehst nochmal hinter das Vordergründige. Zwischen diesem Trash-Talk bzw. Small-Talk. Du bist ein guter Deep-Talk Partner. Aber ist das leicht für dich, dann auch damit umzugehen, weil das unter Umständen, ja, wow, auch dann bedeutet, ja, puh, ich muss mich jetzt wirklich auf den Menschen einlassen.
DN: Ja, ich finde es aber auch viel interessanter. So oberflächlich rede ich super ungern, sondern…
DG: Hm. Ich nämlich auch.
DN: Ich steige da gerne tief ein. Da fällt es mir dann auch leicht, Menschen kennenzulernen. Jetzt vor drei Wochen waren wir auf so einer Hausparty. Da kannte ich erst mal, weiß ich nicht, drei, vier Leute und dachte mir von vornherein so: „Puh, ja, schauen wir mal, ne?" So neue Leute kennenlernen. Nina war auch dabei. Und dann sind wir da reingekommen und gleich voll tief im Gespräch mit irgendwelchen fremden Leuten, und im Nachhinein haben wir dann wieder gesagt so: „Mensch, krass, wie leicht uns das fällt, tief mit Menschen in Beziehung zu kommen und die kennenzulernen. Gefühlt schon am nächsten Tag so Best Buddy zu sein. Natürlich verläuft sich das dann wieder, aber ein schönes Erlebnis.
DG: Ja, in dem Moment bist du da, und ich glaube, die Frage ist ja, was du sagst, welche Fragen du stellt. Das ist nicht mehr oft in der Gesellschaft, sondern da erfüllst du ja meistens eine Rolle oder noch schlimmer einen Zweck. Wo ist denn wirklich noch mal Raum und Zeit im Alltag, wo es nicht um die eigene Selbstdarstellung geht, sondern mal zuzuhören und zu sagen: „Hey, erzähle doch mal. Wie geht es dir? Was macht das mit dir? Wo bist du gerade dran im Leben?" Das ist selten geworden.
DN: Und wie ist das bei dir?
DG: Na ja, gut, ich meine, das ist ja sehr unterschiedlich tatsächlich. Also mir ist es schon sehr wichtig auch, tatsächlich präsent zu sein und auch wirklich zuzuhören und sich die Zeit zu nehmen. Ich merke jetzt aber tatsächlich auch mit der neuen Stelle, dass natürlich, wenn zwanzig Anfragen pro Tag ankommen, von wirklich Menschen in existentiellen Sorgen und Nöten, teilweise Todesängsten, dann ist es natürlich wieder schwierig, sich komplett zu öffnen. Sondern ich muss es dann wieder ein bisschen abgrenzen, aber trotzdem offen und zugewandt zu sein.
DN: Wie versuchst du da, die Menschen zu sehen? Also die haben alle ihre Schicksale, mit denen sie nach Deutschland kommen und hier Asyl suchen.
S2. Genau. Ja, also ich glaube tatsächlich, es geht um die Grundwertschätzung. Ich antworte jedem. Ich versuche, ihm immer eine Alternative aufzuzeigen, und ich sage zum Beispiel nie, es gibt keine Option mehr. Sondern ich verweise weiter, wenn ich selbst keine Lösung habe, dann sage: „Es gibt hier oder dort noch eine Beratungsstelle, du kannst dich dorthin wenden. In meiner Rolle kann ich dir gerade nicht helfen, aber wende dich doch dort und dorthin." Aber dieser Totschlagsatz: „Ich kann nichts tun oder es gibt keine Lösung", der oft schnell gesagt ist, den versuche ich zu vermeiden und stattdessen zu überlegen: „Wo gibt es noch einen Andockpunkt?" Flüchtlingsrat, Rechtsanwälte etc… Es geht darum den Menschen in Bewegung zu halten, ihn aktiv sein Leben gestalten zu lassen und zu ermutigen weiterhin seinen Weg zu gehen. „Ich kann nichts mehr tun", das ist wie kurz vor dem Sterben, davor gibt es immer Möglichkeiten.
DN: Und schlagen wir da mal die Brücke, also zu der Jahreslosung. Die Hagar?
DG: Ja.
DN: Hagar, ist fortgegangen und war dann allein, in der Wüste. Traurig, gefühlt verlassen und verstoßen. Sie dachte: „Jetzt ist Schluss, es gibt nichts mehr". Und dann: Dann kam Gott. Er hat sie in ihrem Elend gesehen. Aber vielleicht magst du einfach nochmal kurz die Geschichte erzählen, denn die Jahreslosung ist ja darin eingebettet.
DG: Gerne
DN: Genau.
DG: Abraham wollte ein Kind bekommen mit Sara, seiner Frau. Sara konnte nur keine Kinder bekommen, so dass er auf die Idee kam mit seiner Magd ein Kind zu bekommen. Sara war begeistert und auch Hagar hatte keine Einwände. Aus unserer Sicht vielleicht schwer nachzuvollziehen, aber damals war das üblich. „Kriege ich kein Kind, kriegt mein Mann es halt mit einer anderen Frau." Und dann ist es einfach so ein Stück ein Familiendrama. Das hätte man bei der GZS oder anderen Soaps vermarkten können, dass er dann halt mit der Magd ein Kind bekommt und das natürlich nicht so locker, flockig funktioniert, wie man sich das vorstellt.
DN: Hatte Sara das vorgeschlagen?
DG: Ja, genau es war Saras Idee. Aber tatsächlich ist das dann nicht so gelaufen und Hagar ist geflohen, nachdem sie von Sara gedemütigt wurde. Und dann saß sie eben dort in der Wüste und, das muss man sich vorstellen, das ist ja emotional schlimm. Du bist allein, schwanger, also du bist tatsächlich einer der vulnerabelsten Gruppen, würde man heutzutage sagen, also wirklich alleingestellt auf dich. Du bist vertrieben von denen, die es dir vorgeschlagen haben. Gut, jetzt können die Klugscheißer sagen: „Das hätte man sich ja denken können". Aber Fakt ist, es ist erst mal so. Und inmitten dieser Ausweglosigkeit, in der Ohnmacht erscheint ihr Gott. So wird Hagar in der Begegnung mit Gott vom passiven Objekt zum handelnden Subjekt. Als Magd ist sie nur Objekt und wird sogar in ihren intimsten körperlichen Bereichen ausgebeutet - in der Begegnung mit Gott wird sie zum Subjekt, sie beginnt Gott zu preisen. So wie Gott sie beim Namen nennt, so nennt sie Gott beim Namen: El Roi = "Gott, der mich sieht / nach mir schaut". Und, das Spannende ist ja: Gott hat nicht alles super gemacht hat und Sara vom Blitz erschlagen lassen oder ein Wunder vollbracht, dass alle sich liebhaben. Sondern um es vom Ende her zu erzählen, ist Hagar zurückgegangen in diese Ehekonstellation, in diese Widrigkeiten. Ich glaube, das war genauso schwer wie zuvor, aber sie hat für sich rational wahrscheinlich begriffen, es ist trotzdem einfacher, in dieses Familienkonstrukt, Patchwork vielleicht, keine Ahnung, wie man, dass nennen würde, ich weiß es nicht, ja, zurückzukehren, weil sie dort immer noch das Beste für das Kind war. Dass es für den Ismael – ihren Sohn – besser ist, als allein in der Wüste zu verhungern, zu sterben. In dem Moment aber, als sie verstanden hat, dass trotzdem wer da ist in dem Moment, hat sie gesagt: „Du bist ein Gott, der mich sieht." Also sie hat in dieser ausweglosesten Situation Gott erkannt, als jemanden der ihr die Würde zuspricht. Und weil du vorhin fragtest, wie man Menschen helfen kann, für Menschen da sein kann, ich glaube, dass es immer auch darum geht, diesen Bezug zu Gott herzustellen, weil wir eben nicht alle alles und für alle immer zu Hundertprozent da sein können, sondern wir müssen ein Stück weit das auch jemandem Größeres überlassen und ihn um seine Hilfe bitten. Wir können weder das Leid der Welt komplett beseitigen noch alle großen, auf der Welt befindlichen Umweltkatastrophen beheben. Das wird alles – leider – nicht funktionieren. Wir können und müssen unseren Beitrag leisten, aber gleichzeitig wissen wir als Christen das wir begrenzt sind. Begnadigte Sünder.
DN: Du hast ja gesagt: Gott hat sich für einen Weg entschieden, für den Weg der Liebe, und eben nicht für einen gewaltvollen Weg, indem er alles zerstört, was nicht in seinem Sinne ist.
DG: Richtig. Er könnte es, aber zu Ende gedacht wären wir dann nur Marionetten, die so lange spielen dürfen, bis Papa am Seil zieht. Dann wären wir nicht frei und auch nicht Gottes Ebenbild. Der Preis ist dafür die Sünde, die Zerstörungswut des Menschen und der Tod.
DN: Guter Gedanke
DG: Das ist nicht einfach. Aber Gott sagt. „Ich bin der konsequente Weg der Liebe, der Passion und ich leide mit euch. Das heiß ist Passion. „Leidenschaft“. Gott brennt für die Liebe zu uns Menschen, auch wenn wir ihn wegstoßen und nichts von ihm wissen wollen. Er ist da und in seiner Geschichte mit Christus sehen wir, dass es eine kommende Welt ist – in der alle Tränen abgewischt sein werden. Das stimmt mich hoffnungsvoll.
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